
31 Mai Achtsames Führen heißt sich selbst achtsam führen
Achtsamkeit begegnet einem heute allenthalben, oft auch in seiner englischen Version als „Mindfulness“. Der Begriff deutet schon an, woher die Welle stammt, die nun auch hierzulande in der Unternehmenswelt (und nicht nur dort) angekommen ist: Aus den USA, wo unbefangener als in Europa Methoden der Geistesschulung in den Unternehmenskontext integriert werden. Dort wurden Werkzeuge entwickelt, die auch den spirituellen Kontext der Dharma-Lehre, aus dem Achtsamkeit ursprünglich stammt, nicht verschweigen, wie etwa im Programm „Search inside yourself“ von Google oder in der mittlerweile weltweit angewandten Methode der Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR). Für unseren Gebrauch können und wollen wir die spirituellen Anklänge beiseitelassen. So konzentrieren wir uns in der Regel auf die fördernden und positiven Wirkungen der Achtsamkeit – auch wenn im Laufe der Anwendung oftmals klar wird, dass der aus einer konsequenteren Praxis entstehende Zuwachs an Klarheit und gradueller Gelassenheit irgendwann weitere, tiefere Fragen anspricht. Diese mag ein jeder/jede weiterverfolgen oder nicht. Doch klar ist: Es öffnen sich Türen.
Was versteht man aber nun unter Achtsamkeit eigentlich? Das ist, ganz einfach ausgedrückt, die Fähigkeit des menschlichen Geistes, sich zu fokussieren – auf die äußere und/oder innere Welt. Doch gilt es hier eine bestimmte Qualitäten anzuwenden, wie sie in einer Definition von Jon Kabat-Zinn, einem der wichtigsten Achtsamkeitslehrer, deutlich wird: „Achtsamkeit ist Gewahrsein, das kultiviert wird, indem wir mit andauernder und bestimmter Weise aufmerksam sind: mit Absicht, im gegenwärtigen Moment und ohne Beurteilung“. Zwei Kompetenten sind dabei wichtig: das Gewahrsein des unmittelbaren Erlebens, und dies in einem bestimmten „Mindset“: Es geht um Gewahrsein in Neugier, Offenheit und Akzeptanz. Dies klingt so lapidar, doch sind wir in unserem Alltagsverhalten im Umgang mit Menschen, Gefühlen, Sachverhalten und Dingen eben nicht aufmerksam, sondern fast immer unter dem Wasserspiegel der bewussten Wahrnehmung: reaktiv, rigid, im Modus stetiger Verteidigung, gestresst, nicht wirklich bewusst, was in Körper und Geist gerade vor sich geht.
Umgekehrt ist das „Leistungsversprechen“, das sich mit Achtsamkeit verknüpft, beachtlich (und freilich ohne konstante Praxis nicht erreichbar). Methoden der Achtsamkeit haben das Potenzial, uns über die Wasserlinie der bloßen Reaktivität, aus der „Trance der Nicht-Wahrnehmung“ (Tara Brach) hinauszuführen. Bezogen auf die Welt der Arbeit bedeutet dies:
- Achtsamkeit kann uns aus den Stressabläufen im Körper hin zu einer bewussteren Wahrnehmung der somatischen Situation bringen – mit wohltuenden Wirkungen für das ganze somatische und kognitive System.
- Wir kultivieren dabei Methoden der Selbstregulation, was zu einer ganzen Kette an positiven Folgen führen kann: Mehr Wohlbefinden, dadurch mehr Selbstzufriedenheit und damit ausreichend Ressourcen für Kreativität und Innovationsfähigkeiten.
- Mehr Bewusstheit und die Fähigkeit zur Selbststeuerung bedeuten mehr Überblick, adäquates Führungsverhalten, höhere Akzeptanz im Team etc.
- Nachgewiesenermaßen führt Achtsamkeit zu einer Stärkung der zerebralen Fokussierungsfähigkeit und der exekutiven Funktionen des Gehirns, wodurch sich die Produktivität erhöht.
- Es wird eine Stärkung der empathischen Fähigkeiten möglich, was wiederum in Meetings, Gesprächen und schwierigen Situationen vorteilhaft ist.
Schon aus diesen wenigen Hinweisen wird die Relevanz von achtsamer Praxis im Unternehmenskontext sichtbar. Sie ist, auch wenn es in der Unternehmenslogik so gehandhabt wird, kein Add-on der HR-Abteilung. Vielmehr bildet achtsames Verhalten den Humus, aus dem soziale und emotionale Intelligenz erwachsen, die heute gleichrangig neben die fachlichen Fähigkeiten treten – und immer mehr zu weiteren Primärfähigkeiten im Arbeitsleben werden. MIT-Management-Professor Otto Scharmer drückt den Nutzen von Achtsamkeit in bemerkenswerter Knappheit aus:
Ich nehme den Gesamtzusammenhang wahr und sehe eine Zukunftsmöglichkeit
Weshalb gerade heute Achtsamkeit von den Unternehmen entdeckt wird, ist leicht erkennbar. Es geht genau darum: die Chance, wirksamer und schneller Zukunftschancen zu entdecken, wirkliche Lösungen für komplexere Probleme zu finden. Und dies in einer Art und Weise, die auf einer möglichst umfassenden Entfaltung der persönlichen Stärken der Mitarbeiter und des Führungspersonals beruht.
Es kommt ja einer Binsenweisheit gleich, dass uns diese VUCA-Welt (Acronym aus volatility, uncertainty, complexity, ambiguity) enorm fordert. In ihr sind alte Sicherheiten Makulatur, ist das einst Gelernte stets bald überholt, droht die Disruption von Geschäftsmodellen – und alles schillert in relativen, oft subjektiven Wahrheiten, da gemeinsame Orientierungsmodelle verloren gehen. Veränderung wird in diesem Umfeld in Unternehmen zur ständigen Aufforderung – und wird doch gleichzeitig als Last empfunden und daher oft still und heimlich boykottiert. Denn auch diese VUKA-Welt findet sich in Unternehmen: Verweigerung, Unwillen, Kontrollverlust, Aversion gegen Veränderung – aus Überforderung, Nicht-Teilhabe, Nicht-Kommunikation von Zielen und „Purpose“ des Unternehmens. Gleichzeitig branden immer neue Welle der Infragestellung von Unternehmen und Marktwirtschaft heran, neuerdings durch Jugendbewegungen, die aus ihrem Klimaschutz-Engagement genau die Unternehmenswelt als Schuldigen ausmachen, während doch gleichzeitig fast nur die Unternehmen in der Lage sind, die Klima-Misere durch Innovation zu lösen. All diese Widersprüche und Sinn-Konflikte sind mit herkömmlichen Mitteln der Verdrängung und Nicht-Wahrnehmung nicht mehr zu lösen, da sie bereits zu manifest geworden sind. Hier gilt es Resilienz zu entwickeln – und die Fähigkeit zur konstruktiven Veränderung zu bewahren.
Entscheidet ist daher heute sozial und emotional intelligente Leadership gefragt, in der Unternehmenswelt wie in der Gesellschaft. Nur so können die enorme Kreativität und Intelligenz, die in uns allen schlummern, für neue Lösungen aktiviert werden, die heute dringend vonnöten sind. Achtsames Führen legt sukzessive frei, was wichtig ist: Freiräume des Denkens und Entwickelns, Leistungsbereitschaft, weil ein sinnvoller Zweck sichtbar wird, Wertschätzung, Mitgestaltung, Verständnis, aber auch Konsequenz, Durchhaltevermögen, Führung durch Überblick und tragfähiger Vision.
Alte lineare Entscheidungsmodelle sind nicht mehr flexibel genug, sind oft sozial und emotional dysfunktional und stehen der Weiterentwicklung hin zu einer „lernenden Organisation“ (Peter Senge) im Wege. Diese bezieht stets den Kontext nicht nur des Marktes, sondern der Gesellschaft und verstärkter denn je der Naturwelt mit ein.
Die Kulturtechnik dazu heißt Achtsamkeit.
Sie wird in unterschiedlichen Ausprägungen und Stufen zum Standard-Programm des Führens im 21. Jahrhundert werden (müssen). Auf weiten Strecken ist dies aber zu allererst immer die Fähigkeit zur Selbstführung, etwas anders ausgedrückt: der Selbst-Regulierung. Diese wird in den Bereichen Fokussierungsfähigkeit (kognitive Fähigkeiten), Wahrnehmung (Körper und Geist), Handlungen (Werte, ethisches Verhalten, Ausrichtung) und Verstehen (Erkenntnis) zu üben sein – nach Maßgabe der Möglichkeiten und Zugänge. Erst aus einem gestärkten und resilienten Inneren breitet sich sodann wie Wellen ein achtsames äußeres Führungsverhalten aus.
Denn dies ist einer der großen Blindpunkte im bisher immer nur mechanistisch verstandenen Führungsverhalten, das vom Funktionieren von Befehlsketten ausgeht – es blendet die Resonanzeffekte zwischen Führung und Team aus, ebenso wie die Qualitäten von Kommunikation in Gesprächen und Teams. Vor allem aber übersieht das herkömmliche Managementdenken den „Blind Spot“ schlechthin, wie Otto Scharmer, Mitentwickler der „Theory U“, nachweist. Das ist „the inner place – the source – from which we operate when we act, communicate, perceive, or think“. Die Qualität der Ergebnisse ist eine Funktion des Bewusstseins, mit dem Menschen in diesem System arbeiten. Genau dort aber entscheidet sich, ob „Change“ letztlich auch umgesetzt wird. Es gilt die Erkenntnis von Bill O‘ Brian, dem früheren CEO von Hanover Insurance, der pfeilgerade auf die Führungskraft zielt: „The success of an intervention depends on the interior condition of the intervener“. Kurz und gut: Erfolg (der auf viele Arten definiert werden kann) ist von dem abhängig, was in uns vorgeht. Dies wahrzunehmen – und entsprechend zu handeln, ist Achtsamkeit.
Kurt Oberholzer
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